GRENZEN ÜBERWINDEN

Geschichte von Shpresa

Geschrieben von Fatmire Zenelaj Sopa

Fatmire Zenelaj Sopa gewann mit dieser Geschichte 2020 den ersten Platz im Wettbewerb auf Schweizer Ebene im Rahmen des im gesamten deutschsprachigen Raum stattfindenden Literaturfestivals „StadtLesen“.

Viele Jahre sind vergangen, aber in meinen Gedanken sind die Erinnerungen an den Krieg, die Folterungen, die Getöteten und Massaker, die Flucht und die Leiden immer noch frisch. Mir scheint, als wäre gestern alles passiert.

Ich verstand es nicht, warum wir unser Zuhause verlassen mussten, den Ort, in dem wir geboren sind, wir waren in unserem zu Hause, in unserer Heimat, die auch die Heimat unserer Grosseltern war.

Wie kann man diesen schrecklichen Schultag vergessen, den Tag, der mein ganzes Leben verändert hat. Ich ging in die 8. Klasse, die erste Stunde endete, wir begannen mit der zweiten Stunde, der Klassenlehrer hatte das Thema geändert und uns gesagt, dass wir heute Frühlingsblumen zeichnen werden, „Frühling zeichnen und färben, wie Sie es wünschen„, und dann werden wir alle nach Hause gehen.

Wir fingen an, den Frühling voller Blumen zu zeichnen, aber wir haben es nicht geschafft, die Zeichnung fertig zu machen. Plötzlich drang eine Flut von Kugeln aus dem Fenster in unser Klassenzimmer ein. Wir hörten die Stimme des Lehrers schreien,„ legte euch schnell hin, legt euch schnell hin„ , aber sie hielt nicht an und die Stimme des Lehrers war nicht mehr zu hören. Ich lag unter der Bank, Händchen haltend mit meiner Freundin Agnesa. Nach ein paar Minuten hörten die Kugeln auf. Wir weinten alle, einige wegen Verletzungen und einige aus Angst, aber nur die Stimme meiner Freundin wurde nicht gehört. Ich rief ihr zu, aber sie sprach nicht mehr mit mir. „Bitte wach auf„,  bat ich sie ununterbrochen, aber sie hatte bereits ihre Augen geschlossen, Blut floss aus ihrem linken Arm, Sie hielt das Zeichenblatt mit den Händen und die Frühlingsblumen waren rot geworden, sie hatte sie mit ihrem Blut gemalt.

Mein Lehrer lag auf dem Boden, sein ganzer Körper war voller Blut, die anderen Kinder hatten Angst, wir mussten gehen. Ich hatte nicht die Kraft zu gehen und meine Freundin und meinen Lehrer auf dem Boden liegen zu lassen, aber die anderen Lehrer sagten uns, wir sollten gehen, sie sagten auch, dass wir die Getöteten und Verletzten mitnehmen werden.

Der Weg nach Hause streckte sich und hatte kein Ende. Ich konnte kaum nach Hause kommen, meine verängstigten Eltern warteten auf mich, die Bombenangriffe hörten nicht auf, wir gingen alle in den Keller des Hauses, um den Bomben und Kugeln zu entkommen, aber diesen Kugeln konnte mein  Vater nicht entkommen.

Er war am Bein verletzt, ich versuchte die Blutung mit einigen Bandagen zu stoppen, die wir zu Hause hatten, aber die Blutung hörte nicht auf, er begann schwächer zu werden und die Kraft zu verlieren, mit Seelenschmerzen, versehentlich tropften meine Tränen auf die Wunde meines Vaters und er öffnete sofort seine Augen und sah mich an, strich mir durch die Haare und sagte, mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Nach Einbruch der Dunkelheit hörten die Bombenangriffe auf. Die einzige Hoffnung auf Überleben bestand darin, in die Berge zu fliehen. Das ganze Dorf floh zu dem Berg. Inmitten von Angst und Entsetzen schien nur der Mond und ermöglichte es den Verwundeten ihre Wunden mit Hilfe seines Lichts zu verbinden.

Ich hatte viel Angst, ich hatte keine Angst vor dem Tod, sondern vor den Folterungen durch die  Soldaten. Wir flohen in die Berge, ohne Orientierung, verloren, verängstigt, müde und hungrig. Nach vier Tagen auf dem Berg und unserem Treffen mit einem Arzt wurde mein Vater etwas stärker.

Zehn Monate Flucht, von Dorf zu Dorf, von Berg zu Berg.  Bomben und Kugeln waren unsere Lebensgefährten geworden, aber das Schwierigste war, durch die Leichen und Verwundeten zu gehen und ihnen nicht helfen zu können. Erinnerungen, die nicht vergessen werden. Ich kann den März 1999 nicht vergessen, als wir gezwungen waren, nicht nur unser Zuhause, sondern auch unser Land zu verlassen.

Sechs  Tage in den schneebedeckten Bergen ins Nachbarland  zu gehen, war ein Kampf um Leben oder Tod, Weg, den Tausende von Menschen gingen,  der Weg war  rutschig, jeden Moment konnten wir in einen Abgrund fallen, unsere Körper zitterten vor Kälte, wir trauten uns nicht anzuhalten, weil wir wegen der Kälte sterben  würden.

Wie kann ich den Moment vergessen, in dem ich eine Frau sah, mit ihrem Baby im Arm in der Nähe eines Felsens erfroren, neben dem eine andere alte Frau tot auf einem Stein lag. Alle 20 Meter trafen wir Leichen, wir wurden auch wie zu Geistern, gingen auf dem Weg  wie lebende Tote. Wegen der Kälte mussten wir weiter marschieren, wir spürten unsere Körperglieder nicht, wir waren so müde, dass wir nicht einmal mehr das Leben wollten.

Es war 7 Uhr morgens, und plötzlich wurde unsere Gruppe von Soldaten angegriffen, wir waren über 200 Menschen, jetzt stand der Tod vor unseren Augen, sie lachten uns aus und beleidigten uns mit schmutzigsten Wörtern. Sie hatten überhaupt keine Gnade für uns und schlugen uns so hart wie möglich, einer der Soldaten schlug mich auf die Schulter mit dem Maschinengewehr, ich lag sofort vor Schmerzen auf dem Boden, meine Mutter fing an zu schreien, mein Vater versuchte den Soldaten weg zu zerren, der mich schlug, aber er schlug auch meinen Vater, auch mein Vater fiel zu Boden, fast bewusstlos .

Wie kann ich den Moment vergessen als auf der Spitze der Berge, gefroren von der Kälte, hungrig, die Gefühle der Gliedmassen verloren gingen, während die Soldaten begannen, Männer und Frauen in zwei Gruppen aufzuteilen, eine Taktik, die uns bereits bekannt geworden war.

Wir wussten schon, was passieren würde, wir wussten, was uns erwartete. Die Männer stellten sie alle auf der einen Seite auf, die Frauen und Kinder auf der anderen Seite, dutzende Soldaten standen vor uns, mit automatischen Waffen vor uns. Sie sprachen laut miteinander – „ was sollen wir jetzt tun? Sie sofort töten oder noch etwas warten? –Nein, nein, wir töten sie nicht, sagte der andere. -Zeigen wir Ihnen etwas Wichtiges? – Allen Männern banden sie Hände und Füsse zusammen und fingen an, wie verrückt zu lachen. – Jetzt werdet ihr etwas sehr Aufregendes sehen, sagte einer der Soldaten und näherte sich den jungen Frauen. – Jetzt werdet ihr sehen, wie Sex gemacht wird.

Wie wilde Tiere finge sie an, ihre Kleider zu zerreissen, sie hatten nicht genug Kraft sich selbst zu verteidigen, sie schrien mit aller Kraft Nein, Nein, Nein. Ihre Stimmen Drang tief in die hohen Berge ein, ihr Schicksal war schrecklich, gleich schrecklich war auch für uns, dass wir nicht die Kraft hatten, ihnen zu helfen. Ihre Körper bluteten aus den Nägeln der Kriminellen, sie wurden rücksichtslos vergewaltigt, vor den Eltern, Brüdern und ihren Kindern.

Die Soldaten hörten auf, Frauen zu vergewaltigen, nachdem einige automatische Schüsse zu hören waren, aber die Kriminellen drehten sofort ihre Gewehre in die Richtung der Männer und erschossen sie alle, dann flohen sie.

Der Tod war für sie die Rettung, während 20 junge Frauen mit zerrissenen und vergewaltigten Kleidern auf dem kalten Schnee standen. Die Hilfe für uns war zu spät, die Männer starben unter uns, mein Vater, ich berührte sein Gesicht, ich hoffte, er würde aufwachen, aber er sprach nicht mit mir, ich nahm eine Hand voll Schnee und begann, das Blut aus seinen Augen zu entfernen, damit er sie öffnen konnte , aber er konnte sie nicht öffnen, ich löste seine Beine und Arme, damit er sie bewegen konnte, aber es war immer noch nutzlos, er konnte sie nicht bewegen, ich brachte mein Ohr nahe, um seinen Herzschlag zu hören, aber sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, ich wollte ihn ein letztes Mal umarmen aber er bewegte sich nicht, er bewegte sich nicht mehr, -Papa Wach bitte auf, schrie ich ununterbrochen.

Ich hatte mich in diesem Entsetzen verloren, ich hoffte, dass alles ein Traum sein würde und ich aus dieser Angst aufwachen würde, aber niemand weckte mich, aus der Wirklichkeit kannst du nicht aufwachen, du musst sie erleben und erleiden.

Für ein paar Minuten vergassen wir die vergewaltigten Frauen, um die Toten zu retten, plötzlich waren ihre Stimmen zu hören, sie hielten sich alle an den Händen, sie sprangen vom Felsen und fielen hin, ihre Stimmen hallten zum Himmel. Alles geschah vor unseren Augen, von dem Entsetzen, das ich erlebt hatte, hatte ich das Bewusstsein verloren, ich weiss nicht, was als nächstes geschah, ich weiss nur, dass eine Gruppe von Soldaten aus dem Nachbarland uns gefunden und gerettet hatte. Nach zwei Tagen wachte ich in einem Zelt auf, das als Krankenhaus in einem Flüchtlingslager gebaut worden war. Sobald ich meine Augen öffnete, sah ich meine Mutter neben mir stehen, meine jüngere Schwester und mein Bruder waren in der Nähe. Ich fragte sie nach meinem Vater, aber sie antworteten nicht,  Antwort für mich waren die Tränen, die über ihre Wangen flossen.

Wir hatten alles verloren, was wir hatten, wir hatten nur den Schmerz und Leid bei uns.

Wir blieben zwei Monate im Flüchtlingslager. Von den Organisationen der verschiedenen internationalen Verbände nahmen sie uns mit und schickten uns nach Deutschland.

Ich möchte den Krieg vergessen, ich möchte mich täuschen, dass alles nur ein Albtraum war, aber vergebens. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schliesse, fühle ich die Hand meiner Freundin in meiner Hand, höre ich die Stimme des Lehrers und anderer Schüler, ich höre die Stimmen und Schreie von vergewaltigten Mädchen, ich höre die Stimmen von Babys, die unaufhörlich weinten, ich höre die Schüsse, die meinen Vater töteten, ich fühle die Kälte dieses März und die Hoffnung, dass der Frühling wieder kommt.

(Foto: St.Galler Tagblatt)

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